Ein Porträt von Susanne Müller
„Ich wollte nur lange genug durchhalten, dass meine Kinder alt genug sind, um sich an mich zu erinnern.“
Susanne Krause wird 1973 in Karl-Marx-Stadt geboren. Die Stadt heißt heute Chemnitz, Susanne später Müller, und aus den geraden Linien eines Lebenslaufs werden Schlangenlinien mit Stolpersteinen und Schranken.
Wenige Jahre nach der Wende zieht Susanne für ihr Bauingenieurwesen Studium erst nach Berlin, dann nach Lyon und landet schließlich in Karlsruhe, im Westen des wiedervereinigten Deutschlands. In ihrem Studium lernt sie, dass auf gute Planung und genaues Berechnen Verlass ist. Später ist ihr Leben unberechenbar und ihrer Planung wird immer wieder ein Strich durch die Rechnung gemacht. In Karlsruhe lernt Susanne Arndt kennen, und wird mit Zwillingen schwanger. 2001 kommen Emma und Moritz zur Welt und noch im selben Jahr schließt Susanne ihr Studium ab. 2002 bekommt sie eine Stelle als Brückenbauingenieurin bei der Deutschen Bahn und arbeitet halbtags, sodass noch Zeit für ihre Kleinkinder bleibt.
2004 wird Klara geboren. Schon während der Stillzeit entdeckt Susanne einen Knoten in ihrer Brust. Ein Milchstau, sagt der Kopf. Doch der Körper widerspricht leise, aber hartnäckig. Am 4. November erzählt eine Freundin am Morgen von einer Tante mit Brustkrebs. Susanne spürt, wie ihr Bauchgefühl Alarm schlägt. Noch am selben Tag geht sie zur Gynäkologin, zur Mammografie. Dann kommt das Urteil: Brustkrebs, mit 31 Jahren.
Susanne ruft ihre Eltern an. Ihre Mutter ist Kinderonkologin, kennt die langen Flure, die Sprache der Befunde, die Schwere und die Möglichkeiten. Sie rät ihrer Tochter, nach Chemnitz zu kommen und sich von ihren Kolleg*innen in der Frauenklinik behandeln zu lassen. Susannes Vater ist in Kurzarbeit Null, und steht sofort bereit, seine Tochter zu unterstützen. Noch in dieser Nacht, zwischen dem 4. und 5. November, packen Susanne und Arndt alles zusammen und fahren mit den Kindern auf der Rückbank nach Neuwürschnitz bei Chemnitz – in die offenen Arme der unterstützenden Eltern.
Am 5. November folgen die Biopsie und weitere Untersuchungen: Sieben Tumore in der rechten Brust, alle zwischen einem und sechs Zentimeter groß. Am 6. November beginnt die Chemotherapie. Alles kommt Schlag auf Schlag, in einem Takt, der keinem jungen Familienleben entspricht, aber es bleibt keine Wahl. Klara muss von einem Tag auf den anderen abgestillt werden und für Emma und Moritz müssen Kindergartenplätze in Neuwürschnitz gefunden werden. Eine Nachbarin, Conny, kämpft in derselben Zeit gegen Knochenkrebs, ihre Kinder gehen in denselben Kindergarten. Aus geteiltem Leid entsteht eine Freundschaft, die bis heute hält.
Arndt arbeitet in Renchen und fährt jedes Wochenende 500 Kilometer, um seine Familie zu sehen. Susanne und die Kinder leben acht Monate in Neuwürschnitz, zwischen Chemo, Operation, Bestrahlung und Ärzt*innengesprächen, aber auch Schneemannbauen, Sandkasten und Spaziergängen im Wald.
„Ohne die ständige medizinische Unterstützung meiner Mutter und die Unterstützung mit den Kindern durch meinen Vater wüsste ich nicht, wie ich das geschafft hätte. Ich war durch die Behandlung ja oft geschwächt“, sagt sie später. Man hört ihre Dankbarkeit laut und klar in diesen Sätzen – und die Feststellung, dass Krankheit und Bekämpfung in Deutschland auch eine Frage von Wohnraum, Zeit und sozialem Umfeld ist. Es ging, weil die Eltern Platz, der Vater Zeit und die Mutter Wissen hatten.
Die Chemo zieht sich mit Unterbrechung für die Operation bis in den Frühsommer. Anfangs geht Susanne noch leichtfüßig durch die Behandlung, doch von Mal zu Mal wird es anstrengender und die Erholungsphasen nach einem Chemotag werden länger. Parallel dazu findet die Brustamputation statt, eine permanente Veränderung des Körpers, aber vor allem eine Hoffnung, die Krankheit ein für alle Mal zu beseitigen. Im April folgt eine lebensgefährliche Lungenentzündung, eine Legionelleninfektion, die sich Susanne aufgrund ihres von der Chemotherapie geschwächten Immunsystems eingefangen hat. Im Mai und Juni wechselt sie zur Bestrahlung.
Abends im Bett weint Susanne oft. Die Tränen der Verzweiflung wechseln sich ab mit Momenten der Hoffnung und Zuversicht, zwei Güter, die die Familie dringend braucht.
Bücher und Filme, in denen krebskranke Menschen vorkommen, muss Susanne abbrechen, Geschichten von Menschen, die ihre Krankheit nicht überleben, beängstigen sie zu sehr. Sie hat nur einen Wunsch: So lange zu leben, dass die Kinder alt genug sind, um sich an sie zu erinnern.
Im Juni 2005 ist sie tumorfrei und „in Heilbewährung“. Ein Wort, das klingt, als müsse sie jeden Tag erkämpfen, dass das so bleibt. Mit einem Schwerbehindertenausweis gewappnet stellt sich Susanne einer siebenjährigen Hormontherapie. Ihr Wunsch wird wahr, in den darauffolgenden Jahren kehrt Susannes Familie nach Muggensturm zurück, die Zwillinge werden eingeschult und Susanne und Arndt wagen sich an den Hausbau. Susanne bleibt gesund, aber die Angst verschwindet nicht. Vor jedem Termin entwickelt ihr Körper Symptome, die auf neue Metastasen hindeuten. Nur langsam schafft sie es, das Vertrauen in ihren eigenen Körper und in ihre Wahrnehmung wieder aufzubauen, das sie verloren hatte. Susanne lernt, damit umzugehen und die Freude an ihrem Leben nicht zu verlieren. Die Kinder wachsen „wunderbar“, sagt sie, getragen von ihren Eltern, Schwiegereltern und Freund*innen. Arndt ist die größte Stütze, die in keinem Moment einzustürzen droht. Mit dem Schulanfang von Emma und Moritz setzt sich Susanne ein neues Ziel: Durchhalten, bis auch Klara eingeschult wird. In Susannes Welt sind ihre kurzfristigen Ziele Träger der Hoffnung, weil die ferne Zukunft kein Planen zulässt.
Erstaunlicherweise geht es gut weiter. Die Jahre füllen sich mit turbulentem Alltag – Arbeit, Elternabende, Kindergeburtstage, Ferien. Aber die Krankheit bleibt, auch während sie eigentlich weg ist. Sie zeigt sich durch regelmäßige Fahrten zu Kontrolluntersuchungen, die schlaflosen Nächte davor, die kleinen Feste nach unauffälligen Befunden und die ruhigen Momente, in denen Susanne von einer Sekunde auf die andere realisiert, dass, obwohl alles so schön erscheint, die Gefahr auf einen Rückfall hinter der nächsten Ecke lauert.
Im Frühjahr 2013, nach acht tumorfreien Jahren, bahnt sich bei Susanne ein Reizhusten an, der nicht vergeht. Das Röntgenbild ihrer Lunge zeigt nichts. Dann, im Juni, versagt die Stimme und das schlechte Bauchgefühl kehrt zurück. Der HNO-Arzt sieht sie an und sagt diesen Satz, der mehr ist als ein Termin: „Bitte so bald wie möglich ins CT.“ Am nächsten Tag kommt das Ergebnis: Vier Lympfknotenmetastasen im Mediastinum, wovon einer auf den Nerv drückt, der die Stimmbänder steuert und die Heiserkeit auslöst. Susanne fühlt sich, als würde ihr der Boden unter den Füßen weggezogen werden. „Einmal hatte ich schon Glück“, denkt sie. „Es ist fast nicht möglich, dass es nochmal so gut läuft.“ Es ist schlimmer als beim ersten Mal.
Den Kindern davon erzählen, ohne ihnen die Zuversicht zu nehmen, ist die erste große Aufgabe. Außerdem steht nicht zur Debatte, alles wieder nach Chemnitz zu verlegen. Muggensturm ist jetzt der Lebensmittelpunkt der Kinder, hier sind ihre Schule und Freund*innen. Also entscheidet sich Susanne für die Uniklinik Freiburg. Als Susanne durch die Gänge geht und in die Chemozimmer blickt, durchfährt sie ein Schmerz, weil ihr bewusst wird, dass das nun wieder ihre Realität sein wird.
Susanne fährt im Dreiwochentakt über 100km nach Freiburg und zurück. Sie verbringt im Laufe der Zeit so viele Stunden im Taxi, dass sie irgendwann glaubt, die ganze Lebensgeschichte des Fahrers zu kennen. An Chemotagen, während Susanne auf dem Chemo-Sessel sitzt, steht mittags eine Freundin mit einer großen Schüssel Lasagne und ihren Kindern in der Küche und sorgt mit dem gemeinsamen Mittagessen für Normalität in Emmas, Moritz‘ und Klaras Leben. Susanne arbeitet zwischen den Zyklen, wenn sie sich gut genug fühlt, und betrachtet die Therapie wie einen Job bestehend aus Terminen, Aufgaben und Erledigen.
Arndt kommt nur bei den wichtigsten Arztgesprächen mit, nicht aus Distanz, sondern aus Planung, denn die Urlaubstage sollen für den Familienurlaub bleiben. Tagsüber ist kaum Raum und Zeit für Angst. Aber abends, vor dem Einschlafen, besonders vor Staging-Terminen, überkommt die Angst Susanne so sehr, dass ihre Muskeln verkrampfen und zittern. Sie ist kein besonders religiöser Mensch, aber wenn sie doch manchmal betet, wagt sie es nicht, um Heilung zu bitten – der Wunsch scheint ihr zu vermessen. Doch der Familienhalt ist so stark und tröstet sie sogar bei dem Gedanken, irgendwann mal nicht mehr hier zu sein.
Nach sechs Monaten sind alle vier Metastasen weg, jetzt stehen Antikörper-Infusionen alle drei Wochen an. Das Leben wird wieder normaler, und Susanne spürt auf eine neue, bewusstere Art und Weise, wie schön sich diese Normalität anfühlt. Noch bevor sie sich an dieses Gefühl der Normalität richtig gewöhnen kann, merkt sie, dass sich ihr rechter Arm seltsam anfühlt, schwach und unkoordiniert. Eine Woche Neurologie, dann die Diagnose: eine Hirnmetastase links vorn – dort, wo der rechte Arm gesteuert wird. Gleich am nächsten Tag erfolgt die Operation.
Als sie aufwacht, ist sie überwältigt vor Glück, noch hier zu sein. Doch der rechte Arm ist stark beeinträchtigt und es ist ihr nicht möglich, Essen zum Mund führen oder einen Stift halten, geschweige denn zu schreiben. Arndt und die Kinder trainieren mit ihr, wenn sie sie besuchen. Ein Plüschtier fangen, später eine Erdbeere greifen, Susanne übt wie eine Weltmeisterin und lernt Stück für Stück zurück: schneiden, schreiben, Zähne putzen.
Immer, wenn Susannes Leben sich wieder einzurenken scheint, holt sie eine neue Diagnose auf den Boden der Tatsachen zurück, und die Tatsache ist, dass ihre Krebserkrankung nun als unheilbar gilt. Trotzdem bleibt sie optimistisch, fast euphorisch. In besonders schwierigen Zeiten realisiert sie, was für sie im Leben wirklich zählt. Es sind nicht die gleichen Dinge wie vorher, Reisen oder Karriere. Wichtig ist ihr jetzt allem voran die Familie.
Menschen aus Susannes Bekanntenkreis raten ihr zu verschiedensten Behandlungsmethoden, von Misteltherapien über Wärmetherapien bis hin zu absurden Diäten. Sie weiß es zu schätzen, dass die Leute ihr helfen möchten, trotzdem kann sie es langsam nicht mehr hören. Es fühlt sich an, als würde sie trotz aller ihrer medizinischen Maßnahmen nie genug tun.
Mit jedem neuen Befund müssen die Kinder informiert werden. Sie gewöhnen sich fast an die immer wiederkehrenden schlechten Neuigkeiten und gerade das ist schwer. 2015 wird die Chemo auf Tabletten umgestellt, die Susanne eigentlich gut verträgt. Ausnahme ist das Hand-Fuß-Syndrom, eine Nebenwirkung, die rote, geschwollene Handflächen und Fußsohlen mit sich bringt, zum Teil mit offenen Wunden. Strecken über 300m gehen, Gartenarbeit, Küchenarbeit, Handarbeit, vieles wird unmöglich. Durch Ausprobieren muss Susanne ihre eigene Routine finden, eine vorgegebene Lösung gibt es nicht.
In den darauffolgenden Monaten und Jahren tauchen immer wieder einzelne neue Hirnmetastasen auf, die bestrahlt werden müssen und Susannes Leben immer wieder aufwühlen.
Eine Hirnmetastase wächst weiter und 2019, eine Woche vor Klaras Abflug nach Kolumbien für einen Schüler*innen-Austausch, wird entschieden: eine weitere Operation steht an. Die Fünfzehnjährige will bleiben, doch Susanne ermutigt sie zu gehen.
Leider wächst die Metastase auch nach der OP weiter und die dritte Hirnoperation steht im Raum. Inzwischen wechselt Susanne an die Uniklinik Heidelberg, dort gibt es eine Studie, die Tumorgewebe molekulargenetisch untersucht. Susanne hat es überwiegend mit sehr netten, kompetenten Ärzt*innen zu tun und trotzdem fühlt sie sich oft wie eine Bittstellerin im ganzen Krankheitsprozess. Im neuen Krankenhaus wird sie wieder operiert. Nach der OP sagt der Arzt fast beiläufig, er habe nicht alles entfernen können, was nach Tumorgewebe aussah. Susanne ist völlig fertig und kommt sich vor wie abgeschrieben. Sie fühlt sich sehr einsam, zumal Arndt sie aufgrund der Corona-Regeln nicht besuchen darf. Für drei Wochen kommt sie aus einem Loch der Verzweiflung und Trauer nicht mehr heraus. Hoffnungslos begibt sie sich zur Nachbesprechung. Was ihr dort gesagt wird, klingt wie ein Wunder: Bei den entfernten Zellen handelte es sich gar nicht um Tumorgewebe, sondern „nur“ um Strahlennektrose. Für Susanne fühlt sich das an wie ein hart erkämpfter Punktesieg, der sie zurück ins Spiel befördert.
Seit der letzten Operation kamen bis heute keine weiteren Metastasen dazu. Die Stagings werden seltener, erst alle drei, nun alle sechs Monate und auch die Aufregung davor ist kleiner geworden. Susanne weiß, dass sie nach wie vor unheilbar an Krebs erkrankt ist, erfreut sich aber daran, dank ihrer Chemo bis zum heutigen Tag tumorfrei zu sein. Normalerweise kommt immer irgendwann der Moment, an dem die Chemo nicht mehr wirkt. Manchmal staunen sogar Susannes Ärzt*innen darüber, dass sie bei ihr schon seit 10 Jahren funktioniert.
Das Hand-Fuß-Syndrom bleibt eine Grenze, aber eine, mit der sie umgehen kann. Seit 2014 macht sie regelmäßig Sport und geht mittlerweile vier Mal pro Woche ins Fitnessstudio. „Die Oberärztin in Freiburg hatte gesagt, regelmäßiger Sport wirke fast so stark wie eine Chemo.“, erzählt Susanne. Anfänglich wurde sie eher von ihrer Vernunft angetrieben, inzwischen hat sie richtig Spaß am Sport. Da ihre Herzens-Beschäftigung – das Wandern – für sie nicht mehr möglich ist, ersetzt sie es durch ausgiebiges Radfahren und radelt gemeinsam mit Arndt durch Europa.
Susanne erzählt, dass sie oft gesagt bekommt, es hänge von der persönlichen Einstellung ab, ob man eine solche Krankheit überwindet. Doch sie weiß, dass das nicht stimmt, dass sie Glück hatte und dass ihre Ressourcen eine größere Rolle gespielt haben als ihr Wille. „Zu sagen, die Heilung hinge von der persönlichen Einstellung der Kranken ab ist ein Schlag ins Gesicht für die, die es nicht schaffen und denen dadurch noch dazu selbst die Schuld daran gegeben wird.“, erklärt sie.
Heute blickt Susanne zuversichtlich nach vorne, nicht naiv, sondern mit Erfahrung. Sie spricht von einem Gefühl der Erleichterung, es so weit geschafft zu haben und ihre Kinder auf einem guten Weg zu wissen. Für sie sind Ziele in Etappen besser als große Versprechen. Die kleinen Momente und Erfolge wiegen mehr und die Freude am Leben hat sie trotz aller Schwere nie verlassen. Wenn sie über die Jahre spricht, kommen ihr Tränen, die wie eine Mischung aus Nostalgie und Stolz wirken.





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